Der Film porträtiert zwei junge Boxer und deren Trainer in Havanna und Schwerin.
Filmrezension
Anja Märtin legt einen 46-minütigen Dokumentarfilm vor – „Campéon“ – dessen Stoff und Thema sie als Autorin selbst entwickelt hat, dessen Produktion sie selbst vorbereitete und realisierte. Sie hat die Protagonisten ausgesucht, die Dreharbeiten in Deutschland und Kuba mit einem professionellen Kameramann als Regisseurin geleitet und eine dramaturgische Erzählstruktur entwickelt und den Film schließlich als Regisseurin und Schnittmeisterin in einer Person montiert und den Ton gemischt. Ich zähle das hier deshalb auf, weil das Filmemachen eigentlich Teamarbeit von Fachleuten ist und mehrere dieser anteiligen Leistungen auf den jeweiligen Fachgebieten für sich den Ansprüchen einer praktischen Diplomarbeit genügen.
Der Film stellt uns zwei junge Boxer vor und deren Trainer. Die einen in Deutschland, Schwerin, gleich um die Ecke. Die anderen in Kuba, Havanna. Auf einem anderen Kontinent, in einer anderen Kultur, in einer anderen gesellschaftspolitischen Epoche.Sie werden sich wahrscheinlich nie wirklich begegnen, nicht nur, weil sie in verschiedenen Gewichtsklassen boxen.
Wir erleben keinen Boxkampf. Nicht zwischen den beiden und auch nicht zwischen anderen Kämpfern. Stattdessen gewinnen wir Einblick in die Abläufe scheinbar unspektakulärer Trainingsstunden in Schwerin und in Havanna. In langen, ruhigen, konzentrierten Beobachtungen, manchmal selbst den Zuschauer fast körperlich quälend. Zuweilen meint man, selbst den Schweiß riechen zu können. Und doch wird es nie langweilig. Es wird intensiver, wir werden in die Situation hineingesogen. Irgendwann einmal will man die nicht enden wollenden Rückenbeugen des jungen Kubaners mitzählen, aber dann ist es zu spät. Man kann nur staunen, wie lange es noch weitergeht.
Es ist allein der künstlerische Einfall der Regisseurin, der nun zur filmischen Realität wurde und uns, den Zuschauern, die Begegnung mit den vieren ermöglicht. Sie aufeinandertreffen lässt, in unserer Wahrnehmung gegenüberstellt und mit einander verbindet. Es ist ein Boxfilm, so nennt sie ihn selbst auf ihrem Plakat. Aber es ist eben nicht nur der 37. oder 98. Boxfilm der letzten fünf Jahre auf dieser Welt,sondern es ist Anja Märtins Boxfilm - und nicht nur als solcher anders als alle anderen, einzigartig, neu und überraschend. Es ist die konkrete Herangehensweise an das Sujet, in dem die Autorin ihr ganz eigenes Thema findet und bei den Dreharbeiten und in der Montage entwickelt.
Es sind die konkreten Protagonisten, die mit ihren individuellen Eigenschaften und ihrem Auftreten das Besondere dieses Filmes ausmachen. Und es sind nicht zuletzt die konkreten Bilder des Kameramannes Christian Reuters mit ihren spezifischen Blickwinkeln, Einstellungsgrößen und –längen, die einerseits für sich wirken und andererseits diese assoziationsreiche Montage ermöglichen. Es ist also vor allem und in erster Linie ein beobachtender Dokumentarfilm, der ganz auf das Miterleben des Zuschauers in der jeweiligen Situation setzt. Doch durch die Montage und mit den sparsam gesetzten Statements geht er über dieses parallel montierte Beobachten weit hinaus.
In der Montage werden Kontraste sichtbar, Gegensätze, Welten prallen aufeinander. Die werden nicht verbal behauptet, sondern jeder Zuschauer kann sie selbst entdecken – angeregt durch kontrastierende Bildschnitte, dann aber weit darüberhinausgehend. Denn die Länge vieler Einstellungen schaffen dem beobachtenden Zuschauer auch Freiräume für eigenes Assoziieren. Um arm und reich kann es da gehen, schwer und leicht, Nord und Süd, Yin und Yang. Da wo das Schwarz am stärksten ist, birgt es im Kern das Weiße – und umgekehrt. Dann aber und genau zwischen diesen Gegensätzen Gemeinsames! Und das eben nicht nur an der Oberfläche der e i n e n Boxwelt, sondern auch in den Tiefen des jeweiligen Selbstverständnisses. Die Boxer, die Trainer die Autorin finden in einer Feststellung zusammen, die schließlich zur Metapher wird: Wer boxt, kann auch tanzen!
Da findet der Film dann zum poetischen Ausdruck einer These, von der die Autorin in ihrer schon lange anhaltenden künstlerischen Hinwendung zum Boxsport beseelt scheint: sie sieht hinter der sportlichen Gewaltausübung vor allem das sich disziplinierende Individuum, die Verbindung von Intellekt und Körperlichkeit. Und es gelingt ihr, uns an dieser Entdeckung teilhaben zu lassen. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf diesen Aspekt wird kontinuierlich aufgebaut. Erst in der Mitte des Filmes fällt verbal das Stichwort „Sensibilität“, aber da haben wir diesen Aspekt längst entdeckt, werden nun bestätigt und in unserer Aufmerksamkeit gelenkt. Einen neuen, überraschenden Anstoß gewinnen unsere Assoziationen zu Beginn des letzten Filmdrittels durch das Sprechen der Deutschen und Kubaner übereinander. Wir sehen die Dinge, die uns gezeigt werden nun nicht neu, aber wieder ein Bisschen anders. Die narrative Struktur des Filmes endet in Schwerin und in Havanna jeweils mit dem Beginn von Boxkämpfen. Wir erfahren nicht mehr, wie sie ausgehen, das spielt in diesem Film auch so gar keine Rolle.
Es ist einer dieser Filme, deren Entwicklung nicht in den Vorgängen einer Handlung liegt, sondern in dem zunehmenden Gewinn einer neuen Sicht auf die Dinge durch den Zuschauer. Das hier aber nicht durch kluge Argumentation, sondern das eigene Erleben des Zuschauers im Kino. Für mich ist dies das Schönste, was Dokumentarfilm kann.
Text: Jochen Wisotzki