Ein Albtraum ist das Zusammentreffen schlimmster Ängste mit dem Gefühl der Ohnmächtigkeit, des Ausgeliefertseins gegenüber einer ausweglos scheinenden Situation. Der Körper reagiert mit Herzrasen, Schweißausbrüchen, schlechte Stimmung am Morgen.
Jeder hat seinen individuellen Albtraum!
Und jeder kann den mit gequälten Ausdruck vorgebrachten Ausruf nachempfinden: ich hatte heute einen schrecklichen Albtraum!
Auf den ersten Blick ist „Die Verwandlung“ von Franz Kafka so ein wahr gewordener Albtraum in literarischer Form. Welche Ästhetik erwächst aus dieser düsteren Erzählung?
Warum wählt Ariann Ruhle die rätselhafte, teils verstörende Geschichte als Ausgangspunkt für ihre Schmuckentwürfe?
In den schriftlichen Ausführungen zum Thema untersucht die Diplomandin das ambivalente Verhältnis des Menschen zum Tier und betreibt eine ausführliche Recherche zur Kulturgeschichte der Mensch-Tier-Verwandlungen.
Zitat S.3 „Die Tierwelt ist die Folie, auf der wir uns abzeichnen. Der Mensch ist erst da Mensch, wo er sich vom Tier abgrenzt und sich dennoch derer vergewissert. Die Selbstbefragung des Menschen ist ein altes und gleichwohl aktuelles Thema.“
Ein wesentlicher Aspekt dieses Themas ist die Metamorphose, hier die Verschmelzung von Mensch und Tier, und die Wandlung des Themas mit zunehmendem Erkenntnisgewinn in Wissenschaft und Psychoanalyse.
„Die Verwandlung“ von Kafka stellt für Ariann Ruhle eine besondere, zeitgemäße Metamorphose – Erzählung dar.
Doch entgegen den vielfältigen Deutungsversuchen, die von Identitätsauflösung und damit einhergehendem Kulturpessimismus und –kritik sprechen, sucht die Diplomandin die positiven Aspekte für ihre Interpretation.
Zitat S.28 „Das Besondere an der Erzählung ist, dass der Verwandelte das Geschehen selbst mit dem Bewusstsein eines Menschen erlebt und reflektieren kann. Sein Körper hat zwar die Gestalt eines Insekts angenommen, aber er bleibt innerlich Mensch und berichtet aus einem Tierkörper heraus seine veränderte Sicht auf die Dinge.“
Die andere Wahrnehmung, der besondere Blick, die „reflektierende“ Verwandlung sind Ausgangspunkt für die praktische Umsetzung. Die erste Metamorphose finden wir in dem Kafkatext. Ariann Ruhle versucht eine zweite: die wundersame Metamorphose vom Albtraum zum Schmuck.
Mit den fotografischen Arbeiten bereitet sie die 2. Verwandlung mental vor. Sie versetzt sich gedanklich in den Käferpanzer und erobert mit der Kamera ungewöhnliche Orte und Sichtweisen und erarbeitet mit bewussten Unschärfen und Verzerrungen eine andere Wahrnehmung. Die Symbole, die Kafka in seiner Erzählung wählt, tauchen in den Fotografien wieder auf und bilden ein Bindeglied zwischen Erzählung und bildlicher Interpretation. Die Schwarzweißästhetik der Fotos unterstützt die Entrücktheit und den surrealen Charakter der Arbeit. Die Fotoserie bildet eine eigenständige Interpretation des Themas. Ist somit nicht vorbereitender Entwurf sondern gleichberechtigter Diplombeitrag.
Die Emotionen und Ängste, die veränderte Wahrnehmung des Protagonisten überträgt Ariann Ruhle auch auf den Schmuckentwurf. Sie zwingt den Betrachter von traditionellen Ansichten über Schmuck abzurücken, d.h. nicht die vordergründige Schönheit zu suchen.
Dieser Schmuck widersetzt sich der gefälligen Betrachtung. Erst der 2. oder 3. Blick bringt die innere Schönheit, die empfundene Ambivalenz in der Interpretation hervor.
Die verletzbare, weiche menschliche Haut stellt Ariann Ruhle durch sanft glänzendes, fleischfarbenes, mechanisch empfindliches Emaille dar. Dieses ist eingeschlossen – teils erdrückend, teils beschützend- durch dünnes, oxydiertes, optisch scharf einschneidendes Silberblech.
Die Materialwahl gilt nicht der Prächtigkeit von Silber und farbigem Emaille, wie wir das von mittelalterlichen Reliquientafeln oder den wunderbaren Emaillearbeiten aus Limoges kennen. Diese Kombination setzt Ariann Ruhle ganz im Dienste ihrer Idee ein. Die Form- und Materialsprache ist ein intensiver Dialog zwischen menschlicher Verletzlichkeit und erdrückender Kühle und Enge.
Bewusst arbeitet Ariann Ruhle nur mit dem Kontrast Emaille und schwarzem Silber, ebenso wie sie nur den Schwarzweißkontrast in den Fotoarbeiten zulässt, um jede ausschmückende Geste zu vermeiden und wird damit dem Thema gerecht.
Für mich zeugen die Fotos und der Schmuck von einer starken Konzentration auf die wesentliche Aussage. Diese Reduktion gibt den Arbeiten die besondere Aura.
(Die Zitate entstammen der schriftlichen Diplomarbeit von Ariann Ruhle)